Das vorletzte Kapitel der Garnisongeschichte

Werfen wir noch einmal des besseren Verständnisses wegen einen Blick zurück. Die Polen, de­nen am 5. November 1916 von Deutschland und Österreich eine neue Staatsgründung ermög­licht worden war, griffen nach dem Ersten Weltkriege nach deutschem Land. Die wegen des kommunistischen Nachbarn zunächst noch anwesende deutsche Besatzung war bis zum 19. November 1918 aus Polen abgezogen und hatte die Waffen zurückgelassen. Bereits am 18. No­vember 1918 besetzten polnische Abteilungen die Grenzorte der Provinz Posen, die ihnen nicht zustand. Am 27. Dezember 1918 begann der von Korfanty geführte Aufstand in Posen. Die schwachen deutschen Truppen mussten weichen. Deutsche und Polen schlossen am 6. Februar 1919 einen Waffenstillstand ab. Die von Militär und deutsch gesinnten Männern vorbereitete Wiedereroberung dieser Gebiete wurde von der deutschen Regierung und von den Allierten am 16. Februar 1919 verboten. Polen verstand schon damals, ein fait accompli zu schaffen und ihm einen Anstrich von Legalität zu geben.

 

Am 7. Mai 1919 folgte das Versailler Diktat, das unter anderem eine Verringerung der Armee zur Folge hatte. Gestützt auf falsche Gutachten bestimmte die Territorialkommission im Jahre 1919 eine neue Grenzlinie. Der Verlust Posens gab der Festung Küstrin eine erhöhte Bedeutung als Hauptbollwerk des mittleren Ostdeutschlands und besonders der Reichshauptstadt gegen Osten. Nur knapp 60 Kilometer lagen in der Luftlinie zwischen Küstrin und der im Jahre 1919 neugezogenen polnischen Grenze. Nach Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht am 16. März 1935 wurde deshalb die Küstriner Garnison wieder erheblich verstärkt.

 

Wir erinnern uns: Nach dem Ersten Weltkriege waren die in Küstrin in Garnison stehenden Truppenteile, das Infanterie-Regiment von Stülpnagel (5. Brandenburgisches) Nr. 48, das Neumärkische Feldartillerie-Regiment Nr. 54 und das 2. Brandenburgische Pionier-Bataillon Nr. 28, aufgelöst worden. In die Artilleriekaserne war die 4. Eskadron der 3. Fahrabteilung und in die Pionierkaserne des 3. Pionier-Bataillon eingezogen. In dieser Zusammensetzung blieb die Garnison während der Zeit der Reichswehr.

 

Nach Aufstellung der neuen Wehrmacht rückten am 15. Oktober 1935 zwei Bataillone (zunächst das II. und III., letzteres später ersetzt durch das I. Ersatzbataillon) des neu aufgestellten Infan­terie-Regiments Nr. 50 in Küstrin ein, für die man am Waldesrand neben dem großen Exerzier­platz in der Neustadt (Zorndorfer Chaussee) eine neue Kaserne erbaut hatte. Die Kaserne wurde nach dem Manne benannt, dessen Name eng mit der Geschichte der 48er verknüpft ist, nach dem General der Infanterie von Stülpnagel. Der Regimentsstab und das I. Bataillon zogen in Landsberg/Warthe ein, wo das Regiment Garnison nahm.

 

Regimentskommandeur war Oberst Paul von Hase (1885-1944). Im September 1938 waren das Infanterie-Regiment Nr. 50 und sein inzwischen zum Generalmajor beförderter Kommandeur ein wichtiger Aktivposten im ersten Staatsstreichplan, den je ein preußisch-deutscher General­stabschef (General Franz Halder) gegen ein deutsches Staatsoberhaupt entworfen hat. Nach dem „Aktionsplan Halder-Witzleben-Oster" sollte das Regiment zur infanteristischen Verstär­kung der den Umsturz durchführenden Heerestruppen in Berlin eingreifen. Der Plan wurde aber nicht ausgeführt. Im Sommer 1939 übernahm von Hase die 46. Infanterie-Division. Ende Juli 1940 wurde er - inzwischen Generalleutnant - vorübergehend zum Kommandanten von Paris ernannt. Im Herbst 1940 wurde er Stadtkommandant von Groß-Berlin. In dieser Eigen­schaft war er am geplanten Staatsstreich vom 20. Juli 1944 beteiligt. Er wurde zum Tode durch den Strang verurteilt und am Abend des 8. August 1944 gehenkt.

 

Im Jahre 1935 rückte auch wieder Artillerie in die alte Festungsstadt ein. Es waren der Regiments­stab und die I. Abteilung unter Major Beeken des schweren Artillerie-Regiments Nr. 39. Die I. Abteilung war aus der IV. Abteilung des Artillerie-Regiments Nr. 3 in Frankfurt/Oder hervor­gegangen. Die II. Abteilung blieb in Frankfurt/Oder, das Regiment selbst war dem in Frank­furt/Oder liegenden Artillerie-Regiment Nr. 3 unterstellt und gehörte zum III. Armeekorps.

 

In der Pionierkaserne lag das Pionier-Bataillon Nr. 3 (vormals 3. preußisches Pionier-Bataillon), das die Tradition der Gardepioniere und des Pionier-Bataillons von Rauch (1. Brandenburgi­sche) Nr. 3 (Stiftungstag: 25. November 1741) fortführte. Die Kaserne, die im Jahre 1935 erheb­lich vergrößert wurde, erhielt den Namen „Pionier-Klinke-Kaserne" nach dem Pionier Karl (Gottfried) Klinke. Um diesen Pionier rankt sich die militärische Legende, dass er sich bei der Erstürmung der Düppeler Schanzen am 18. April 1864 aufgeopfert haben soll, um seinen Kame­raden den Weg durch die Palisaden vor einer Schanze zu öffnen. Mit den Worten: ,,Ich werde Luft schaffen, besser einer als zehn" soll er einen Pulversack unter die Palisaden geworfen und die Lunte hineingestoßen haben. Halb verbrannt soll er selbst nach der einen Seite, die Palisade nach der anderen Seite geflogen sein, und durch die Öffnung ging die Kolonne zum Siege vor. Diese Darstellung des Opfertodes des Pioniers Klinke in alten Geschichtsbüchern geht auf den Prinzen Friedrich Karl (1828-85), der die Operation in Schleswig-Holstein leitete und als Sieger von Düppel in die Kriegsgeschichte einging, zurück. Sie hält aber einer näheren Nachprüfung nicht stand. Nach dem Preußischen Generalstabswerk über den Feldzug 1864 gegen Dänemark entzündete Unteroffizier Lademann von der 4. Kompanie des Pionier-Bataillons Nr. 3 den Gra­natzünder des 30 Pfund schweren Pulversacks. Pionier Kitto warf ihn vom Glacis aus gegen den Fuß der Palisaden. Durch die sofortige Sprengung wurden zwei Palisaden umgeworfen. Pionier Klinke, der sich schon an der Palisadenwand befand, wurde hierbei stark verbrannt und dann beim Herausklettern aus dem Graben von einer Kugel tödlich getroffen. Unteroffizier Lade­mann wurde wegen Tapferkeit zum Leutnant befördert und brachte es in der preußischen Ar­mee bis zum Generalmajor. Von 1895 bis 1898 hat er als Festungskommandant in Küstrin ge­wirkt.

 

Als im August 1935 in Berlin die Absteifung der Tunnelbaustelle der Nord-Süd-S-Bahnlinie in der Königgrätzer Straße (heute Ebertstraße) nahe dem Brandenburger Tor einstürzte und viele Bauarbeiter dabei verschüttet wurden, musste das Pionier-Bataillon Nr. 3 aus Küstrin die not­wendige Hilfe leisten, weil es zu diesem Zeitpunkt in Berlin noch keine Pioniereinheit gab. Das Pionier-Bataillon Nr. 23 kam erst später in die Garnison nach Spandau.

 

An der Spitze der Pionier-Kapelle, die jahrelang noch von dem letzten Musikmeister der 48er, Obermusikmeister Otto Ebert, geleitet worden war, stand jetzt Musikmeister Knütter. Er war ein ausgezeichneter Dirigent, der den Küstrinern oft genug gezeigt hat, dass eine Militärkapelle auch Sinfoniekonzerte zu geben versteht. Im Hohenzollernrestaurant hat er mit seinen Darbie­tungen - er dirigierte auch die schwersten Stücke ohne Partitur - oft genug stürmischen Beifall geerntet.

 

Den neuen Bedürfnissen entsprechend baute die Heeresverwaltung im Stadtwalde ein großes Garnisonlazarett (Standortlazarett 101), das im Jahre 1939 von der l. Sanitätsstaffel der Sanitäts­abteilung 3 unter Oberstarzt Dr. Erchenbrecher betreut wurde. Ferner errichtete man an der Zorndorfer Chaussee große Verpflegungsmagazine (Proviantamt) und die Garnisonbäckerei.

 

Im Übrigen befanden sich im Jahre 1939 in Küstrin das Wehrbezirkskommando mit Wehrmel­deamt unter Hauptmann Grasnickel, das Wehrmachtfürsorge- und -versorgungsamt, ein Hee­resnebenzeugamt, eine Heeresnebenmunitionsanstalt, die Grenz-Kommandantur Küstrin un­ter Generalleutnant Sorsche und die Festungsinspektion III unter Oberstleutnant Sensfuß so­wie das Schutzbereichamt und der Ausbildungsleiter.

 

Mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde nicht nur die Garnison Küstrin erheblich verstärkt, auch der Kommandanturstab musste wesentlich erweitert werden, da unge­fähr 50 Kilometer östlich der Oderfestung neue Befestigungsanlagen erbaut wurden, die der Be­fehlsgewalt des Küstriner Kommandanten unterstanden. Die Anlage von Befestigungsanlagen war erforderlich, weil der Grenzraum zu Polen seit dem Ersten Weltkriege immer Anlass zur Sorge gegeben hatte. Die Maßnahmen, die der Sicherung der Ostgrenze dienten und die bislang nur im Geheimen, getarnt, mit primitiven und unzureichenden Mitteln durchgeführt werden konnten, wurden ab 1934/35 energisch in Angriff genommen. Geplant war der zügige Ausbau ständiger Befestigungsanlagen im Oder-Warthe-Bogen, entlang der alten Nischlitz-Obra-Linie. Die neue Verteidigungslinie - eine fast 70 km lange Front zwischen Crossen und Landsberg/ Warthe erhielt den Namen „Ostwall" und war als Kette festungsmäßiger Infanterie-Werke ge­dacht, die aus Stahlbeton mit Panzerkuppeln und Panzertürmen verstärkt, mit leichten und schweren Maschinengewehren und Granatwerfern bestückt, durch Wasser- und eiserne Pan­zerhindernisse geschützt werden sollten. Etwa in der Mitte der gesamten Verteidigungsanla­gen, bei Hochwalde, wurde mit dem Bau eines größeren Werkes begonnen, das als Kernstück der Befestigungsanlagen gedacht war. Der Kommandantur Küstrin mit der Festungsinspektion oblagen die Baumaßnahmen. Der Ausbau der Festungsanlagen machte rasche Fortschritte. Für den Einsatz im feldmäßigen Stellungssystem wurde deshalb im Zuge der Vermehrung des Hee­res und der befohlenen Umgliederungen die 208. Landwehr-Division, mit Stab in Küstrin, auf­gestellt. Als im Jahre 1937 die Werke sich ihrer Vollendung näherten, wurde für die Besetzung der komplizierten und hochtechnisierten gepanzerten Kampfanlagen eine aktive Spezialtruppe aufgestellt, die die Bezeichnung „Grenz-Infanterie-Bataillon" erhielt. Am 1. Oktober 1937 trat das Grenz-Infanterie-Bataillon 122 im neu angelegten und voll ausgerüsteten Tiborlager, süd­westlich Schwiebus, zusammen. Diese Spezialtruppe wurde im Herbst 1938 durch die Aufstel­lung von drei Regimentern, den Grenz-Infanterie-Regimentern 121 (Garnison Crossen), 122 (Garnison Meseritz) und 123 (Garnison Schwerin) vermehrt; das Grenz-Infanterie-Bataillon 122 wurde auf diese neuen Regimenter aufgeteilt. Ferner wurden noch das Grenz-Pionier-Ba­taillon 71 sowie die Grenz-Artillerie-Abteilung 101 (mot) aufgestellt. Sämtliche Einheiten ge­hörten zur Heeresgruppe 1 und zur Grenz-Kommandantur Küstrin. Die Kommandantur trug seit dem 1. Oktober 1938 die Bezeichnung „Grenz-Kommandantur" und erhielt die Stellungei­ner Division. Im Mobilmachungsfall sollte sie in „50. Infanterie-Division" umbenannt werden.

 

Am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Die Küstriner Truppen rückten ins Feld, Ersatzeinheiten und Verwundete bestimmten in ihrem Feldgrau das Bild der Stadt. Die Kase­matten mussten wieder dafür herhalten, weitere Unterkunftsmöglichkeiten für die vielen Soldaten zu bieten.

 

Vier Jahrhunderte lang war Küstrin Garnison. Sie zählte vor dem Ersten Weltkriege etwa 3000 Mann, in den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkriege nicht viel weniger. Während des Er­sten Weltkrieges bekleidete Oberst Freiherr von Bock den Posten des Festungskommandanten. Ihm folgten die Generalmajore Teschner, Gudovius, Sehmolke und von Wedderkop, bis dann 1932 der spätere Generalleutnant Konrad Sorsche (gest. 1971) zum Kommandanten ernannt wurde, der bei Beginn des Polenfeldzuges mit der 50. Infanterie-Division als deren Kommandeur ins Feld rückte.

 

Die Öffentlichkeit hat die Kommandanten vor allem bei Paraden auf dem Marktplatz gesehen.

 

Oft waren es Tausende, die bei diesen Veranstaltungen den Platz umsäumten bzw. von den Fenstern aus dieses militärische Schauspiel erleben wollten. Kurz vor Beginn waren dann aller Augen auf die schmale Apothekergasse gerichtet, die von der Schlossfreiheit zum Marktplatz führte und wie eine Schlucht wirkte. ,,Durch diese hohle Gasse muss er kommen!", hieß es im Volksmund. ,,Er", das war der Festungskommandant, der - zu wilhelminischen Zeiten in Ga­launiform mit wallendem weißen Helmbusch - von seinem Dienstgebäude am Renneplatz durch die Apothekergasse zum Marktplatz ritt, auf dem die Garnison in Paradeaufstellung stand. Schon der Erbauer der Festung, Markgraf Hans, ist diesen Weg gegangen. Der hielt je­doch noch keine Paraden ab, aber gelegentlich führte er seine Gäste in die von seiner Frau Kä­the gegründete Hofapotheke, um dort zu „schlampampern", wie sich der Markgraf einmal ausgedrückt hat.

 

Erleben wir im Rückblick noch einmal die wilhelminische Zeit. Zu Kaisers Geburtstag stand die Garnison auf dem Marktplatz angetreten, wo im weiten Viereck die in jener Zeit bunten Uniformen, Waffen, Helme und Federbüsche farbenprächtig widerblitzten. An die Truppen reihten sich die alten Krieger und zivile Obrigkeiten mit den Ehrengästen; alle schwarz und feierlich. Als der Präsentiermarsch aller Musikkapellen mit dem Kalbfellrasseln aller Trom­meln und dem abgehackten Pfeifenschrillen aufbrauste, betrat der Festungskommandant den Platz. Nach der Rede, nach Hurra von Truppe und Zivil donnerten die Salutschüsse in die Kaiserhymne und der Vorbeimarsch aller Truppen beendete die Feierstunde. Die Offiziere gingen dann ins Kasino, um das Festmahl einzunehmen, und die Soldaten hatten gleichfalls besseres Essen und vor allen Dingen recht viel Rauchtabak an diesem Tage. Abends aber - die Soldaten durften wegen der an diesem Abend traditionsgewordenen Keilereien zwischen allen Truppen­teilen nur noch ohne Waffen ausgehen - waren überall in der Stadt und den Nachbardörfern Truppenfeiern, die mit dem Prolog eines Unteroffiziers (selbstverständlich weiße Handschuhe, aufgedrehter Schnurrbart und mit Helm) begannen. Der Kompaniechef hielt die Festanspra­che. Auf das erste und natürlich ernste Bühnenstück folgte dann ein lustiges, wo gewöhnlich jetzt die Küchenfee Minna - ein mit Busenwatte ausgestopfter Muschko - stets den Hauptap­plaus bekam. Bei der Polonäse schritt als erster und höchst feierlich der Hauptmann mit der Frau vom Spieß, während dieser, aufgereckt, seinerseits die Hauptmannsfrau nun führte. Streng nach Rang und Dienstjahr folgten dann die Leutnants, dann die Unteroffiziere, schließ­lich auch die Herren Gefreiten mit den Liebsten. Selbstverständlich durfte keiner von den Nichtchargierten wagen, hier speziell an diesem Tanze teilzunehmen.

 

Die letzte große Parade der Garnison fand nach dem gewonnenen Frankreichfeldzug im Jahre 1940 statt. Man freute sich mit den Truppen des errungenen Sieges, aber es lag angesichts der Gefallenen, die die Regimenter zu beklagen hatten, auch ein Hauch von Wehmut über dem Ganzen. War es schon die Vorahnung, dass es das letzte Mal sein sollte, dass hier auf dem histori­schen Marktplatz Küstriner Truppen vor ihrem Kommandanten paradierten?!