Die Entfestigung

Als zu Anfang dieses Jahrhunderts schwere und weittragende Geschütze aufkamen, verloren die Festungen an Bedeutung. Im Jahre 1912 wurde der vom Küstriner Magistrat eingebrachte Entfestigungsvertrag von der Regierung genehmigt. Ehe er zur Ausführung kam, brach der Erste Weltkrieg aus. Nun, nach dem verlorenen Kriege, befahl der Versailler Vertrag die Schlei­fung der Festung.

 

Der Festungswall vor der Wasserfront des Schlosses zwischen den Bastionen König und Bran­denburg war bereits um 1900 abgetragen worden, wie wir schon hörten. In den Jahren 1921 ff. fielen nun das Zorndorfer Tor (1921), die Bastionen Königin (1925) und Kronprinzessin (1921) sowie das Albrechtstor (1927), Teil eines kleinen Ravelins zwischen Berliner Tor und Mittel­schule, der Spitzhacke zum Opfer. Hier noch eine kleine Reminiszenz: Eine Kasematte der Ba­stion Königin hatte Jahrzehnte hindurch als Garnisonbäckerei dienen müssen. Diese war dort eingerichtet worden, nachdem 1813 die eine der von den Franzosen auf dem Hofe des Proviant­amtes angelegten Bäckereien abgebrannt und die zweite 1814 von den wieder in die Festung eingerückten preußischen Truppen abgerissen worden war. Bis zum Jahre 1884 hat die Bäckerei in der Bastion für die Garnison arbeiten müssen, dann wurde eine neue Garnisonbäckerei am Hornwerk erbaut. Diese erlangte wieder Bedeutung, nachdem die in den dreißiger Jahren an der Zorndorfer Chaussee erbaute neue Bäckerei im Februar 1945 wegen des sowjetischen Vor­stoßes auf Küstrin geräumt werden musste. Über dem Toreingang des Zorndorfer Tores hatte Jahrzehnte, vielleicht auch jahrhundertelang, ein schwarzer preußischer Adler aus Gusseisen gethront. Nach dem Abriss des Tores versetzte man ihn im Mai 1931- er galt jahrelang als ver­schollen - auf das Berliner Tor. Davor stand einst ein aus Holz geschnitzter friderizianischer Grenadier und wies den Weg durch das Tor in die historische Altstadt.

 

Es dauerte nicht lange, bis die Wassergräben am Zorndorfer Tor unter den Erd- und Gesteins­massen der inneren Umwallung begraben waren. Die Gräben der äußeren Umwallung wurden zum Teil durch eine Spülleitung von der Warthe her auf Straßenhöhe gebracht. Damit hatte man Neuland für die Entwicklung der Altstadt gewonnen.

 

Die Frage, was mit dem Hohen Kavalier, dem Wahrzeichen der Festung, geschehen sollte, er­hitzte lange Zeit die Gemüter. Wir erinnern uns: Auf der Bastion Kronprinz stand ein festes Haus (Kavalier), das im Laufe der Zeit immer weiter in die Breite und die Höhe gewachsen war, so dass schließlich seine Mauern nach und nach mit denen der Bastion verschmolzen, auf die der Name Hoher Kavalier übertragen wurde. Es war wahrlich ein zyklopischer Bau. Die meter­dicken Wände des Ungetüms zeigten im Erdgeschoß nach Osten drohende Schießluken für Ge­schütze, während die entgegengesetzte Front bis in Turmhöhe von Toren, Türen und Fenstern unterbrochen wurde. Das Innere des Baues wies ein Labyrinth von Unterkunfts- und Lager­räumen, einzelnen Durchgängen und Treppen, die zu den oberen Stockwerken führten, auf. Der Gipfel der Bastion bot einen Ausblick über das Oder- und Warthebruch und die Höhen der Neumark sowie des Sternberger Landes. Zur leichteren Orientierung diente eine Messingtafel mit Richtungsweiser, die auf einem Steintisch ruhte. Dieser Steintisch ist später auf dem Katte­wall aufgestellt worden.

 

In dem Für und Wider in der Frage des Abrisses des Hohen Kavaliers war die Geschäftswelt der Altstadt dafür, die Geschichtsfreunde aus begreiflichen Gründen dagegen. Man schlug unter anderem vor, den Hohen Kavalier stehen zu lassen, ihn aber im Zuge der Kurzen Dammstraße zu tunnelieren und auf seiner Kuppel ein Cafe einzurichten. 1930 fiel dann die Entscheidung für einen Abbruch, mit dem man im Sommer 1931 begann. Die meterdicken Mauern leisteten aber so großen Widerstand, dass sie gesprengt werden mussten. Nachdem das Baudenkmal im Jahre 1932 verschwunden war, entstanden an seiner Stelle einige Neubauten und eine Grünanlage.

 

Die Bastionen König, Brandenburg und Philipp, die Ravelins August Wilhelm und Christian 156 Ludwig (Schweinekopf)- letzterer wurde als Jugendherberge eingerichtet- sowie das Berliner und das Kietzer Tor blieben zwar erhalten, aber mit dem Abbruch der Kernbefestigung hatte Küstrin aufgehört, im eigentlichen Sinne Festung zu sein.

 

Durch die Entfestigung verlor Küstrin leider einen großen Teil seines historischen Gewandes, aber die Altstadt bekam endlich Bewegungsfreiheit. Kommandantur und Stadtverwaltung be­mühten sich, das Gebliebene zu pflegen. Den Wall zwischen den Bastionen Brandenburg und Philipp gestaltete die Stadt 1929 zu einem reizvollen Spazierweg, dem Kattewall, um. Hier spendeten an warmen Sommertagen die großen Kastanienbäume wohltuenden Schatten. Leise rauschte die Oder herauf. So manche Sandbank spannte sich manchmal von Buhne zu Buhne. Linker Hand grüßten die Berge von Göritz hinüber, rechts verbanden die Brücken die Ufer des Stromes und war das Schloss mit dem Fenster zu sehen, aus dem Friedrich der Hinrichtung sei­nes Freundes Katte hatte zusehen sollen. Im Übrigen hatten sich auch die beiden in den Jahren 1842 bzw. 1849 angelegten Glacis zu einer schmucken Anlage mit herrlichem Baumbestand entwickelt.

 

Die umfangreichen Kasematten der Bastion Philipp, in der sich übrigens ein in den Jahren 1891/92 erbautes Wasserwerk befunden hatte, das die Altstadt einstmals mit Trinkwasser ver­sorgte, wurden zu einem Museum - Prinz-Philipp-Kasematten-Museum - eingerichtet. Hier­bei waren größere bauliche Veränderungen in den Kasematten nicht notwendig. Die Kasemat­tenräume blieben in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten. Ihre Ausstattung vermittelte dem Besucher ein getreues Abbild der Räume, wie sie in früheren Jahrhunderten als Kampfstände Verwendung gefunden hatten. Es gab einen nachgebauten Ziehbrunnen mit Ledereimer, an einem Dreibein hing ein Kochtopf über der Feuerstelle. Neben vielen kleinen Schießscharten für Musketen, die nach der Oderfront gingen, gab es auch zwei breite für Kanonen. Küstriner Handwerker bauten an Hand alter Zeichnungen die Lafetten aus zolldicken Eichenbohlen und selbst geschmiedeten Eisennägeln und Beschlägen originalgetreu nach. Die alten Rohre dafür lieferte der damalige Leiter des Berliner Zeughauses, Professor Post. Er lieferte dem Leiter des Städtischen Verkehrsamtes und des Verkehrsvereins, Hermann Thramsjun., auch alles andere, was er für die Kasematten brauchte.

 

Die starke Feuchtigkeit in den unterirdischen Räumen ließ durch Oxydierung und Schimmel­ansetzung bereits nach kurzer Zeit den Eindruck aufkommen, als ständen die Kanonen schon seit mehreren hundert Jahren in den Kasematten unter der Erde. Neben den Kanonen wurden die damals üblichen Vollkugeln in Pyramiden aufgeschichtet. In Eisenringen an den Wänden hingen nachgeahmte Pechfackeln. Für die Besatzung fehlte natürlich auch ein langer klobiger Tisch mit Sitzbänken aus dicken Bohlen nicht. An den Wänden standen und hingen viele Mus­keten, Säbel und andere Waffen und Ausrüstungsgegenstände. Es war bereits eine interessante Sammlung, die da zusammengekommen war. Nach den Plänen von Hermann Thrams sollte in den Kasematten sogar ein Sondermuseum für Waffen - angefangen von der Steinschleuder bis zur Maschinenwaffe unserer Zeit - entstehen. Die zeitliche Entwicklung durchkreuzte diesen Plan.

 

Schauen wir uns das Kasematten-Museum noch etwas näher an. Vom Hof des Wehrbezirks­kommandos kam man in einen schmalen, etwa 30 Meter langen und 3 Meter breiten Gang, der langsam schräg nach unten abfiel. Dieser etwa 3 Meter hohe Gang endete in einer sehr großen und etwa 12 Meter hohen Kasemattenhalle. Links am Gangende lag ein kleinerer Raum, etwa 10 Meter mal 8 Meter groß, der durch eine dicke Bohlentür abgeschlossen war und nur neben die­ser Tür zur Halle hin ein kleines eisenvergittertes Fenster besaß (Arrest- oder Gefangenen­raum?). In der Verlängerung des schmalen Ganges schritt man durch einen 4 Meter breiten und 5 Meter langen Durchlass in einen niedrigen Schießschattengang, der parallel zur Oder verlief. Am Ende dieses 80 Meter langen Ganges betrat man links durch eine schmale Maueröffnung eine zweite Kasemattenhalle mit Schießscharten zum Festungsgraben am Kietzer Tor.

 

Über den Kasemattenräumen der Bastion wölbte sich der Sandwall mit der Grasnarbe, der über dem Schiessschartengang etwa 30 Meter hoch, über der Halle etwa noch 10 Meter hoch war. Die zum Mauerwerk verwandten Mauersteine hatten die Größe von vier normalen Mauersteinen, wie sie heute üblich sind. Als Bindemittel sollen die Maurer von Markgraf Hans damals unter anderem auch weißen Käse verwandt haben. Jedenfalls war das Bindemittel so hart wie Zement. Diese starken Mauern und hohen Erdwälle trotzten bei der russischen Belagerung und Be­schießung 1758 natürlich allen Kanonenkugeln. Selbst gegen die modernen sowjetischen Artil­leriegeschosse und Bomben boten die Kasematten im Februar/März 1945 den Verteidigern der Festung Küstrin noch guten Schutz. Daran mag man die Stärke dieser alten Festungswerke er­kennen.

 

Heute liegt über der Bastion „Prinz Philipp" an der Oder eine unheimliche Stille. Kein Haus steht mehr in der angrenzenden Altstadt. Mannshohes Gestrüpp und dickes Unkraut überwu­chern eine von zehntausenden von Granaten und Bomben im Februar/März 1945 entstandene Kraterlandschaft. Die Festungsgräben sind mit einem grünen Algenteppich überzogen. Hin und wieder zieht auf der nahen Oder ein polnischer Kahn lautlos am gestorbenen Küstrin vor­bei. Stumm verneigen sich im sanften Oderwind unzählige Schilfhalme, starr und stumm schaut schicksalsschwer das trotzige Bollwerk der Bastion „Prinz Philipp" auf die tote Festungs­stadt Küstrin.