Der schwarze Novembertag des Jahres 1806

Unter dem Neffen und Nachfolger Friedrichs des Großen, Friedrich Wilhelm II. (1786-1797), wurde im Jahre 1796 die Räumung der Festungsgräben dringend notwendig. Unter Leitung des zu diesem Zweck von Potsdam nach Küstrin entsandten Hauptmanns Rhode und des Leut­nants Geiling wurden die Gräben durch Einrammen von Fangdämmen in Felder geteilt. Bei dieser Gelegenheit wurden unter Verwendung der den Gräben entnommenen Erde die Rave­lins Christian Ludwig und Albrecht und der Gohrin erhöht. Sonst ist über die Festung nichts Nennenswertes zu berichten.

 

Da aber kam jener Novembertag des Jahres 1806, den man gern aus der Stadtgeschichte ausra­diert wissen möchte: Küstrin kampflos dem Korsen überlassen; die Festung, noch nie von ei­nem Feind erstürmt, ohne Hingabe auch nur eines einzigen Blutstropfens dem Feinde überge­ben. Und dabei war doch Preußens König Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) vor wenigen Wo­chen (vom 18. bis 24.10.1806) noch selber in der Stadt gewesen und hatte noch umfangreiche Anordnungen für eine starke Verteidigung der Festung gegeben. Nach der Katastrophe von Jena und Auerstädt-» war er hierher geeilt. Hier war er nach Wochen der Trennung zum ersten Male wieder mit seiner Frau, der Königin Luise, zusammengetroffen. Er wollte den letzten Rest der preußischen Macht sammeln. Von dem kleinen Gasthaus am Marktplatz (,,Goldener Hirsch"), wo er mit der Königin Luise wohnte, gingen die Befehle aus, die schlesischen Festun­gen in Verteidigungszustand zu setzen. Die Vorbereitungen für einen harten Widerstand in Kü­strin übernahm Friedrich Wilhelm III. selber. Küstrin sollte unter allen Umständen gehalten werden. Auf seinen Befehl wurde die Festung schnell mit Fleisch, Gemüse, Branntwein und Getreide für drei Monate versorgt. 80 Geschütze ließ er auf die Wälle schaffen und für jedes 200 Granaten. 12 Geschütze standen in Reserve. Die Außenwerke der Festung ließ er mit Palisaden umgeben, den Brückenkopf durch Verhaue und Wolfsgruben-» decken.

 

Die Garnison bestand aus den III. Bataillonen, den sogenannten Depot-Bataillonen, zu je 750 Mann der drei Regimenter Prinz Heinrich (Füsilier-Regiment Nr. 35), Prinz Oranien, früher einmal Markgraf Carl von Brandenburg-Schwedt (Musketier-Regiment Nr. 19) und von Zenge (Musketier-Regiment Nr. 24), aus 500 Mann Festungsartillerie und 75 Husaren vom Regiment Usedom, nahe an 3000 Mann stark. Die sogenannten Depot-Bataillone waren nach Auflösung der Garnison-Regimenter im Jahre 1788 aufgestellt worden und wurden bei den Feld-Regimen­tern seit 1794 als III. Musketier-Bataillone verwendet. Kommandant der Festung war Oberst Friedrich Wilhelm Heinrich Ferdinand von lngersleben.

 

Am 31. Oktober 1806 stieß die Avantgarde der französischen Armee, die Division Gauthier, bei Manschnow auf die Husaren der Garnison, welche zur Erkundung vorgegangen waren. Die Hu­saren wurden geworfen, verfolgt und mit dem Infanterie-Vorposten in den Brückenkopf an der Torschreiber-Brücke getrieben. Der um Verstärkung gebetene Festungskommandant antwor­tete: ,,Er (lngersleben) könne keine Leute aus der Festung lassen, weil sie alle davonlaufen wür­den." So kam es zu einem Gefecht zwischen 250 Franzosen und der kleinen Abteilung preußi­scher Soldaten (etwa 60 Mann) unter Leutnant von Falkenhayn. Der Offizier fiel, und die Mannschaft floh in die Festung. Die Franzosen besetzten den Brückenkopf. Der Kommandant ließ die Oderbrücken abbrennen. Später erinnerte ein Gedenkstein an der Odervorflutbrücke nicht nur an diesen Leutnant, sondern auch gleichzeitig an die am 20. März 1814 erfolgte Befrei­ung Küstrins von der Franzosenherrschaft.

Nach der Einnahme des Brückenkopfes sah man von den Festungswällen aus die Franzosen am anderen Ufer promenieren, lachen und scherzen, wobei sie, wie zur Verspottung ihrer Gegner, die Finger in große Honigtöpfe tauchten, deren sie sich in den Kellern einiger vorstädtischen Bienenzüchter bemächtigt hatten.

 

Am Abend des 31. Oktober schickte der Festungskommandant, Oberst von lngersleben, einen Offizier zum General Gauthier, um ihm zu erklären, dass er nicht auf den Brückenkopf schießen lassen werde, wenn sich der General ruhig verhalte. Gauthier ließ hierauf den Kommandanten zur Übergabe auffordern, widrigenfalls er die Stadt bombardieren werde. Da Gauthier mit sei­ner Division auf Befehl Napoleons sogleich weitermarschieren musste, so ließ er das 85. Regi­ment unter dem Oberst Duplay vor Küstrin zurück.

 

Oberst lngersleben versammelte am folgenden Morgen, dem 1. November, die Stabsoffiziere der Garnison und erklärte ihnen, dass er die Festung übergeben wolle. Oberst von Weyher vom Regiment Prinz Heinrich und Oberst von Manteufel vom Regiment Zenge stimmten zu, Oberst Boumann von der Artillerie war es egal, nur der Ingenieur vom Platz, Leutnant Thynkel-», hielt die ernste Verteidigung der Festung für eine unerlässliche Pflicht. lngersleben erklärte darauf, dass er die Stadt nicht einäschern lassen werde, und befahl dem Leutnant Thynkel, mit einem Trompeter sich hinauszubegeben, um über einen 8 bis 14tägigen Waffenstillstand zu verhan­deln. Da der Oberst Duplay hierauf erklären ließ, dass das Bombardement seinen Anfang neh­men werde, wenn die Festung nicht binnen zwei Stunden übergeben werde, so entschloss sich der Kommandant, selbst in einem Kahn über die Oder zu setzen, um zu kapitulieren. Leutnant Thynkel musste ihn begleiten.

 

lngersleben wurde am jenseitigen Ufer von General Gauthier und Oberst Duplay empfangen, welche ihm erklärten, dass das Bombardement sogleich beginnen werde, wenn er Küstrin nicht übergebe. lngersleben erwiderte darauf, dass er zur Übergabe bereit sei. Der französische Gene­ral diktierte nun die Kapitulationspunkte. lngersleben unterschrieb, Leutnant Thynkel verwei­gerte die Unterschrift. Der Kommandant fuhr nun in Begleitung des Obersten Duplay und zweier französischer Soldaten über die Oder zurück. Damit war der Verrat geübt. Es handelte sich aber noch darum, diesen Verrat den alten berühmten Bataillonen auch annehmbar zu ma­chen. Und das war nicht leicht; denn Ingersleben kannte sehr wohl die Gesinnung des gemei­nen Mannes. In der Tat rebellierte das Bataillon Oranien unter seinem Kommandeur von Hitz­acker, als ihm die Kapitulation endlich mitgeteilt wurde. Unmittelbar danach wurden auf Bitten des Kommandanten drei Kompanien französischer Grenadiere übergesetzt. Auch jetzt noch stand die Sache misslich genug; denn ein am Geschütz postierter Artillerist hob, als er die her­anschwimmenden Kähne sah, bereits die Lunte; aber ein Offizier von der Kapitulationspartei hieb ihm mit dem Degen über die Hand und rief: ,,Kerl, bist du des Teufels." So nahm denn der Feind unangefochten um 14 Uhr von der Festung Besitz. Die Garnison musste sogleich das Ge­wehr strecken, wütend zerschlugen die Soldaten ihre Musketen. Am folgenden Tage wurden sie auf das linke Ufer der Oder gebracht und den neu angekommenen frnazösischen Truppen übergeben, von welchen sie die verächtlichste Behandlung erdulden mussten. Viele machten sich übrigens aus der Gefangenschaft frei und waren später mit unter den Verteidigern von Kol­berg.

 

Werfen wir in diesem Zusammenhang einen Blick auf die anderen preußischen Festungen:

Schon am ersten Tag nach der Schlacht bei Jena (15.10.1806) wurde Erfurt übergeben. Am 23. 10. konnte Napoleon bereits von allen zwischen dem Rhein und der Elbe liegenden preußi­schen Ländern sowie von Braunschweig, Fulda, Hessen-Kassel und den Hansestädten Besitz ergreifen. Am 25. 10 kapitulierte die Festung Spandau. Am 27.10. hielt Napoleon seinen feierli­chen Einzug in Berlin. In rascher Aufeinanderfolge kapitulierten die Festungen Stettin (29. 10.), Küstrin (1. 11.) und Magdeburg (8. 11.). Nur Blücher rettete die Ehre der preußischen Armee, indem er gegen drei französische Armeekorps in und bei Lübeck heldenmütig focht, bis auch er bei Ratkau, jedoch mit allen militärischen Ehren, kapitulierte (7. 11.). Auch die schlesischen Festungen ergaben sich eine nach der anderen: Glogau (2. 12.), Breslau (5. 1. 1807), Brieg (16. 1.), Schweidnitz (7. 2.), Neiße (16. 6.), Kose! (18. 6.), Glatz (25. 6.). Im ganzen Land widerstanden nur noch Silberberg, Danzig, Kolberg (von Gneisenau, Nettelbeck und Schill tapfer verteidigt) und Graudenz, wo der greise Courbiere befehligte und den Franzosen auf die Meldung, der König von Preußen habe sein Königreich verloren, mit Festigkeit erwiderte: ,,Nun, so werde ich König in Graudenz sein."

 

Am 25. November 1806 ritt Napoleon in Küstrin durch das Berliner Tor. ,,C'est une forteresse formidable" ( = Das ist eine furchtbare Festung) oder - nach anderer Lesart - ,,Das ist ein un­bezwingbares Bollwerk" soll er bewundernd und frohlockend ausgerufen haben, als er hoch oben auf dem monumentalen Hohen Kavalier stand und die Bastionen und Anlagen, das Was­ser und die Sümpfe ringsumher sah. Küstrin wurde dann nebst Stettin einer der wichtigsten Stützpunkte für die Fortsetzung des Krieges.

 

Dem Festungskommandanten Oberst von Ingersleben wurde später wegen bewiesener Feig­heit der Prozess gemacht. Das am 29. September 1809 gefällte Urteil lautete: ,,Der Oberst Fried­rich Wilhelm Heinrich Ferdinand von Ingersleben ist nach Kriegsbrauch durch Arquebusieren vom Leben zum Tode zu bringen, auch sein gesamtes Vermögen ist zum Besten der General­Invalidenkasse zu konfisciren." Das Todesurteil konnte nicht vollstreckt werden, da sich Ingers­leben krank im Ausland aufhielt, wo er 1814 gestorben ist. Zuvor soll er vom König Friedrich Wilhelm III. zu lebenslänglichem Festungsarrest begnadigt worden sein. Die übrigen Stabsoffi­ziere scheinen nicht verantwortlich gemacht worden zu sein.

 

Ingersleben ist nach Fontane unter den unrühmlichen Festungskommandanten jener Tage der unrühmlichste, weil der zweideutigste. Von dem, was den Soldaten macht und ehrt, besaß er nichts. ,,Ingersleben", so schreibt General von der Marwitz, ,,war seit dem Champagne-Feldzug von 1792 Ritter des Pour le merite. Aber wie hatte er den Orden erhalten? Der König legte gro­ßen Wert darauf, kein Geschütz in dem aufgeweichten Kalkboden stehen zu lassen. Eines Tages quälten sich die Artilleristen mit einer solchen Kanone, als das Regiment, bei welchem Ingers­leben stand, vorü berzog. Dieser saß auf einem seiner gewaltigen Gestalt angemessenen riesigen Braunen, der, aller Kriegsstrapazen unerachtet, noch sehr wohl im Stande war. Ingersleben hatte den König kaum gesehen, als er vom Pferde sprang und seinen Braunen in eines der Ge­schirre steckte. Wohlweislich aber ließ er den Sattel mit Pistolenhalfter und der großen goldge­stickten Paradeschabracke auf dem Rücken des Pferdes. Und nun tat er sehr geschäftig, schrie, legte selbst Hand an und trieb so, dass die Kanone richtig aus dem Schlamm heraus kam. Der König fragte sogleich, wem das Pferd gehöre, und gab ihm den Orden. Ingersleben aber, als der König weit genug fort war, spannte seinen Braunen wieder aus, setzte sich auf und ließ die Ka­none stehen. Später wurde er wegen üblen Betragens vor dem Feinde vom Regiment entfernt, bis ihn höfische Fürsprache zum Kommandanten von Küstrin machte." Als Friedrich Wilhelm III. bei seinem Besuch in Küstrin im Oktober 1806 bei der Besichtigung der Festung fragte: ,,Ob er sich's auch wirklich getraue (nämlich die Festung zu verteidigen)?", antwortete Ingersleben, „er werde die Festung halten, bis ihm das Schnupftuch in der Tasche brenne." Der bald darauf zutage tretende Verrat Ingerslebens ist entweder in Feigheit oder günstigenfalls in einer Art von Apathie zu suchen. Denn er gehörte zu den Leuten, die jeden Glauben an die Widerstandskraft oder auch nur an die Lebensfähigkeit Preußens verloren hatten. Napoleon strich eigenhändig den Paragraphen in der Kapitulationsurkunde, der dem Ingersleben den Eintritt in die französi­sche Armee zusagte: ,,Er könne einen Mann nicht gebrauchen, der seinen Herrn verraten habe." Frau von Ingersleben, eine geborene von Massow, spie vor ihrem Gemahl aus und trennte sich auf immer von ihm. Nach einer anderen Darstellung warf sie ihm, als er, bei den Vorbereitungen zur Flucht, von ihr ein Sitzkissen forderte, statt des Kissens eine Schlafmütze hin.

41) Bei Jena und Auerstädt besiegten am 14.10.1806 die Franzosen unter Napoleon 1. und Marschall Davoust die Preußen unter dem Herzog von Braunschweig, der in der Schlacht fiel, und dem Fürsten Hohenlohe.

Deutsche Fürsten. darunter das neue Königreich Bayern. vereinigten sich unter Napoleon 1. im „Rheinbund" gegen Österreich und Preußen. Franz 11.. Enkel Maria Theresias. legte die deutsche Kaiserkrone nieder: Ende des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation."

42) Wolfsgrube = Hindernis aus trichterförmigen Löchern von 0,50 bis 1.50 m Tiefe. in denen ein zugespitzter Pfahl angebracht war.

43) Ein Major Thynkel ist von 1816-28 als Ingenieur-Offizier vom Platz in der Festung Neiße aufgeführt. Die Identität ist wahr­scheinlich. kann aber nicht mit Sicherheit behauptet werden.